Das finstere Mittelalter überliefert uns befremdliche Bilder von Bibliotheken: Da sind die Folianten an den Pulten angekettet, damit niemand eines der wertvollen Stücke davonträgt. Wohl auch, so wird gemutmaßt, damit keiner sich mit dem gefährlichen Gut Wissen außerhalb von Aufsicht und Disziplin der Fakultäten zu schaffen machte.
Heute findet das Mittelalter in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt und Leipzig statt. Wer die als Belegexemplare eingelieferten digitalen Publikationen einsehen will, kann das weder vom privaten Internetanschluss aus noch von dem seines Instituts oder seiner Universitätsbibliothek aus. Er muß nach Frankfurt reisen und einen Leihschein ausfüllen, um dann dort am Terminal die digital angeketteten "Veröffentlichung" einsehen zu können.
Die Bibliothek ist dafür am wenigsten zu schelten. Da der Gesetzgeber es versäumt hat, die rechtlichen Vorschriften der technischen Entwicklung des Buchwesens anzupassen, sind die Verlage nicht verpflichtet, digitale Publikationen abzuliefern. Die Bibliothekare haben in langwierigen Verhandlungen wenigstens erreicht, daß die Verlage die Bücher freiwillig einreichen - aber nur zu zu ihren Bedingungen.
Die Journal-Crisis
Nicht nur digitale Publikationen hängen an der Kette der Verlage. Spektakulär ist die Entwicklung bei den wissenschaftlichen Zeitschriften. Teuer waren diese Zeitschriften waren schon immer teuer - nicht ohne Grund, denn ihre Herstellung verlangt hohen Aufwand: Fachlich kompetente redaktionelle Betreuung, aufwendiger Druck (Sonderschriften, Illustrationen) in oft kleinen Auflagen, Versand in alle Länder der Erde und dann auch noch Lagerhaltung für viele Jahre.
In den letzten etwa 10 Jahren haben sich die Preisefür solche Zeitschriften im Durchschnitt verdreifacht - sie liegen heute zwischen $ 5 000 und $ 20 000 für das Jahresabonnement. Gleichzeitig hat sich die Zahl der relevanten Publikationen etwa verdreifacht. Für eine solide geführte Bibliothek läßt sich daraus eine Verzehnfachung des für die Anschaffung erforderlichen Budgets errechnen. Doch die Anschaffungsetas stagnieren, und in den Regalen breiten sich Lücken aus. Bibliothkare sprechen von einer "Journal-Crisis".
Viele Wissenschaftler hat diese Entwicklung kalt erwischt. Sie betrachten wissenschaftliche Ergebnisse oft nicht als Waren mit einem Preisschild, sondern als Tauschobjekte in einer Geschenkökonomie: Jeder kann frei verwenden, was der andere als Baustein zum gemeinsamen Werk beiträgt, solange er die Anstandsregeln des sauberen Zitierens und der Anerkennung von Prioritäten einhält.
Damit ist es vorbei, seit man weniger von "scientific community" spricht, sondern mehr von "intellectual property", das unmittelbar in die Produktion übergeführt und zur konsequenten Verwertung patentiert werden soll. Wissenschaftliche Zeitschriften waren früher oft Herzensangelegenheit oder zumindest Prestigeobjekte engagierter Verleger, die zur Not auch einmal eine zeitlang draufzahlten, um einen Titel über die Runden zu bringen. Nach einem mehrjährigen Konzentrationsprozess werden fast alle diese Zeitschriften von wenigen international agierenden Großverlagen herausgebracht, die mit ihnen knallharte Proftimaximierungsstrategien verfolgen.
Billig einkaufen - teuer verkaufen
Das Geschäftsmodell ist simpel: Die Produktion des Wissens erfolgt an Universitäten und Instituten mit staatlichen oder aus der Wirtschaft eingeworbenen Mitteln - also für die Verlage Kostenlos. Viele Wissenschaftler sind sogar bereit, "Druckkostenzuschüsse" aufzutreiben, nur damit ihre Arbeitsergebnisse gedruckt werden. Die von den Verlagen eingebrachte Eigenleistung ist da, wo die Autoren ihre Texte auf Diskette einliefern und der Druck aus dem Computer kommt, kaum noch der Rede wert - der Gewinn, der sich damit erzielen läßt, umso mehr. Margen von 40% sind nach Auskunft von Branchenkennern keine Seltenheit.
So wären die wissenschaftlichen Zeitschriften ein perfektes Instrument zum Abgreifen von Staatsknete - gäbe es nicht das Internet. Vielen Wissenschaftlern dauert es zu lange, bis die Verlage ihre Texte in einer vielleicht nur quartalsweise erscheinenden Publikation an die Kollegen bringen. Sie laden daher ihre Manuskripte auf sogenannte Preprintserver, um sie unmittelbar in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen. Einer der größeren davon, der Los Alamos Physics Information Service mit der schönen Adresse http://xxx.lanl.gov, erhält täglich um die 100 Preprints, während seine Datenbank - ebenfalls täglich - über 50 000 Zugriffe verzeichnet. Inzwischen hat sich ein - stellenweise noch etwas chaotisches - Netz solcher Server etabliert, das nahezu alle naturwissenschaftlichen Bereiche abdeckt. Die Gesellschaftswissenschaften ziehen, wenn auch etwas zögerlich, nach.
Flucht in die Netze
Viele Wissenschaftler veröffentlichen ihre Texte inzwischen auf eigenen Homepages. Seit einigen Jahren schließlich entstehen "echte" Netzpublikationen, sogenannte "electronic journals", in denen Texte in abgeschlossener Form und auf Dauer abgelegt werden - eine Veröffentlichung auf Papier ist nicht mehr vorgesehen.
Damit stehen die Wissenschaftsverlage, die sich bis eben noch im Besitz einer Gelddruckmaschine geglaubt hatten, plötzlich da wie die Heizer auf der E-Lok unseligen Angedenkens: Keiner braucht sie mehr.
Die in die Defensive geratenen Verlage verweisen darauf, daß ihre Redaktionen in einem zum Teil tatsächlich recht aufwendigen Verfahren sogenannte Peer-Reviews organisieren: In den guten Blättern erscheint kein Beitrag, der nicht von mehreren anerkannten Fachkennern gegengelesen und oft auch aufgrund ihrer Hinweise umgearbeitet worden ist.
Das überzeugt nur begrenzt. Auch den "anerkannten Fachkennern" sind in den letzten Jahren ziemlich viele "scientific frauds" (bewußte Fälschungen) durch die Lappen gegangen. Außerdem halten sich hartnäckig Gerüchte, daß um einige Zeitschriften Zitierkartelle und nachgerade mafiöse Strukturen entstanden sind, die ganz andere als Gesichtspunkte der Qualität zur Geltung bringen. Viel überzeugender ist: Was im Internet steht, setzt sich von Anfang an der Kritik sämtlicher Fachleute aus. Wenn jemand starke Thesen mit schwacher Begründung vorträgt, wird das im Netz schneller entdeckt und korrigiert, als in der Welt periodischer Papier-Veröffentlichungen. Peer-Reviews und Versionsverwaltung lassen sich im Internet genausogut organisieren wie mit Zeitschriften - und kommen billiger.
Kampf um "intellectual property"
Darum haben einige Verlage jetzt harte Bandagen aufgelegt: Das nahezu übereinstimmende Grundmuster: Sie verlangen die Übertragung aller Rechte auf den Verlag und den Verzicht auf Vorabveröffentlichung auf Preprint-Servern. Möglichst jede Veröffentlichung und jede Verwertung soll über ihre Abrechnungsstellen laufen - freier Austausch der Wissenschaft? Hat im Zeichen von "Intellectual Property" nichts zu besagen. Da ist sie wieder, die Kette aus dem Mittelalter.
Für einige Zeitschriften ist diese Forderung anscheinend auch durchsetzbar: diese Publikationen haben eine so überragende Stellung, daß die jeweilige Wissenschaftlergemeinde alles, was nicht dort erscheint, nicht für voll nimmt.
Dazu kann man nur sagen: Selbst dran schuld, wenn sie sich an die Kette legen lassen. Die allgemeine Entwicklung scheint jedoch in eine andere Richtung zu gehen. Auf einer Veranstaltung der Heinrich Böll-Stiftung in Berlin im vergangenen April wurde deutlich, daß immer mehr Wissenschaftler es nicht länger hinnehmen wollen, wie Ihr Wissen "eingekerkert" wird - so der Berliner Mathematiker Martin Grötschel. In den USA hat die "Public Librawry of Science" bereits 30 000 Unterschriften von Wissenschaftlern gesammelt, die verlangen, daß alle Veröffentlichung spätestens 6 Monate nach Erscheinen im Internet kostenlos zugänglich sein sollen. Andere Forderungen gehen noch weiter und verlangen, daß mit öffentlichen oder gemeinnützigen Mitteln geförderte Forschungen ihre Ergebnisse sofort über das Netz zugänglich machen müssen.
Die Weltvereinigung der Mathematiker (IMU) hat jetzt Nägel mit Köpfen gemacht: Mitte April hat sie ihr Kommunikationssystem Math-Net gestartet. Es soll allen Mathematikern eine einheitliche Plattform für ihre Webpublikationen bereit stellen. Das Ziel: Eine Digital Mathematical Library, die die gesamte Mathematische Literatur im Internet bereitstellt - ohne Ketten aus Eisen, Geld oder andere Zugangsbeschränkungen.
Dieser lange Text ist natürlich keine Netgeschichte. Aber da er zum Thema gehört und ebenfalls in der FR erschienen ist, passt er hier ganz gut hin.
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Dr. Michael Charlier